Diese Kurzgeschichte darf unter dem Motto „Arsch huh - Zäng ussenander!“ verstanden werden. Sie ist für mich gleichzeitig Spiegel aller positiven wie negativen Tendenzen in unserem heutigen Deutschland. Sie ist gleichzeitig Hoffnung und Resignation, Anklage und Ansporn, Wunsch und Verzweiflung. Und trotzdem findet sich wie in vielen meiner Geschichten ein Aspekt, der – wäre er real – diese Geschichte wahr werden lassen könnte. Und Spaß zu lesen macht sie Ihnen hoffentlich auch.
© Dirk Paulsen 2012
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„Und was sollte das jetzt?“, fragte er gereizt.
Sie lächelte ihn an: „Das ist ein uraltes Geschenk, das dein Vater und ich von einem Massaikrieger bekommen haben. Er sagte zu uns, wenn wir uns in Gefahr begeben müssten, sollten wir dieses Ritual durchführen, es würde uns vor Unheil bewahren. Dein Vater hat nicht darauf gehört.“ Fola schwieg einen Augenblick, bevor sie fortfuhr. „Ich glaube einfach, dass wir nichts falsch machen, wenn wir versuchen, wenigstens dich zu beschützen. Du wirst es brauchen, mein Junge.“
Tränen traten in ihre Augen, aber sie wischte sie mit einem erzwungenen Lächeln weg. Dann nahm sie ein Amulett aus der Zigarrenkiste, das an einem Lederband befestigt war. Es war aus Messing, rund, etwa drei Zentimeter im Durchmesser. In der Mitte war ein Loch, um das sich fünf Gesichter gruppierten.
„Das ist ein Maskenamulett“, sagte sie und hängte es Aaron um den Hals. „Es zeigt die fünf Seiten deiner Seele: Angst, Trauer, Wut, Erstaunen und Freude. Es soll dich immer daran erinnern, dass jedes Ereignis in deinem Leben eines dieser Gefühle braucht. Aber es soll dich auch vor Hass bewahren und dich froh machen.“
Aaron nahm das Amulett in die Hand und schaute es an. Sie streichelte ihm über die Wange.
„Mach dir um uns keine Sorgen“, sagte sie mit fester Stimme. „Ich habe jetzt ein Maul weniger zu stopfen, das schaffe ich ohne Mühe.“
Aaron wusste jedoch, dass schwere Zeiten auf sie zukamen. Um so dringender musste er in Europa Geld verdienen. Er ließ das Amulett unter sein Hemd gleiten. Ein letztes Mal umarmte er seine Mutter.
„Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Ich hoffe, ich kann es dir bald gut machen.“
Er drückte sie sehr fest. Dann drehte er sich um, nahm seine Tasche und ging.
„Hört ihr das?“, fragte Sabélo plötzlich und riss Aaron aus seinen Träumen. Alle wurden still.
„Was meinst du?“, fragte eine Frauenstimme und Aaron antwortete.
„Der Schiffsdiesel. Die Maschine läuft nicht mehr.“
Alle redeten durcheinander. „Sind wir am Ziel? Ist die Maschine kaputt? Was ist los?“
Dann passierte eine ganze Weile gar nichts. Doch plötzlich donnerte ein dumpfer Knall durch das Schiff. Kurz darauf hörte das Schaukeln abrupt auf.
Das Dröhnen der metallischen Verschlusshebel ließ den ganzen Raum vibrieren. Zwei schwere Stahltore am Heck des Schiffes, die den Frachtraum wie bei einer Autofähre verschlossen, wurden aufgezogen und schmerzendes, gleißend helles Tageslicht zwang sie alle dazu, die Augen zu schließen.
„Ach du Scheiße!“, platzte es aus Uwe Klaas heraus. Der Schwall verdorbener Luft, der ihm aus dem Schiffsbauch entgegenschlug, trieb ihm die Tränen in die Augen und seine Luftröhre verschloss sich reflexartig. Er trat zur Seite, um den Würgereiz zu überwinden und wieder atmen zu können. Sein Freund und Arbeitskollege Arne Carstensen wedelte mit seiner Hand vor dem Gesicht herum, als könne er so die Gerüche vertreiben.
„Oh mein Gott! Was für ein Gestank!“, sagte er und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Erschüttert schaute er kopfschüttelnd auf die etwa achtzig Afrikaner, die dort zusammengepfercht in ihren Exkrementen hockten.
Aaron sog gierig die frische Luft in seine Lungen. Es war ihm gelungen, den infernalischen Geruch in seinem Kopf abzuschalten. Erst jetzt machte ihm der ungewohnte Duft von Sauerstoff den Gestank wieder bewusst. Als sich ihrer aller Augen langsam an das Licht gewöhnten, nahmen sie blinzelnd erste Eindrücke der fremden Umgebung wahr. Hinter den beiden deutschen Zollbeamten lag ein langer Pier, dessen Ende man nicht sehen konnte. Scheinbar unendlich zogen sich die Containerreihen haushoch bis zum Horizont. Die Sonne schien, und das Blau des Himmels war die erste Farbe, die in ihrem Bewusstsein eine erste Erkenntnis auslöste. Ihr Martyrium in diesem Stahlgefängnis war vorüber, sie hatten es geschafft. Zumindest ein Teil von ihnen. Denn nicht alle standen auf, als die deutschen Zöllner ihnen durch Handzeichen zu verstehen gaben, den Laderaum zu verlassen. Erst jetzt bemerkten sie einige Leichen, denn der Tod hatte unbarmherzig Ernte gehalten. Freunde, Verwandte, Nachbarn oder Fremde, über die sie nun nicht achtlos, so doch machtlos mit abgestumpftem Blick hinwegsteigen mussten.
Aaron und seine Leidensgenossen betraten zum ersten Mal in ihrem Leben europäischen Boden. Deutschland - Hamburger Hafen - Containerterminal. Soviel wussten sie, als jeder von ihnen 3.500,- Dollar an den Schlepper zahlte, der ihnen die Freiheit verkauft hatte. Als Aaron hörte, dass er auf einem Frachtschiff direkt nach Deutschland gelangen könnte, hatte er keinen Augenblick gezögert. Wie ein Wahnsinniger hatte er in den Monaten zuvor gearbeitet und sich den Rest des Geldes bei Freunden geliehen, um den Schlepper bezahlen zu können.
Und nun stand er hier zusammen mit seinem Freund Sabélo und den anderen Gefährten in stinkenden Fetzen auf dem Frachtterminal des Hamburger Hafens – und fror. Es war Anfang Mai und die für deutsche Verhältnisse frühlingshaft-lauen achtzehn Grad waren für Aaron und seine Landsleute fast winterlich.
„Du, den Leuten ist kalt“, bemerkte Carstensen und deutete mit einem Kopfnicken auf die schlotternden Menschen.
„Ich seh’s.“, erwiderte Klaas. „Aber wir sollten sie nicht sofort in die Container schaffen, sonst können wir die gleich verbrennen. Ich fordere die Sicherheitstruppe an und dann geht’s erst mal in die Badewanne.“
Kurz darauf fuhr ein VW-Transporter mit acht weiteren Zollbeamten vor, gefolgt von einem alten Mannschaftswagen. Freundlich forderte man die frierenden Afrikaner auf, einzusteigen.
Auch ein Dolmetscher war unterwegs, denn auf die vielen Fragen in Afrikaans und anderen afrikanischen Dialekten konnten die deutschen Beamten nur mit einem entschuldigenden Schulterzucken reagieren. Aaron indes beherrschte neben seiner Landessprache Xhosa auch Englisch. Und ab und zu hatte er auch deutsche Autos repariert und deren Bordbücher studiert. So war er mit der deutschen Sprache konfrontiert worden und konnte sich verständlich machen.
„Ich kann helfen“, sagte Aaron unsicher zu Uwe Klaas.
„Oh, Sie sprechen Deutsch?“, fragte der Zöllner überrascht.
„Ein bisschen“, antwortete Aaron und sprach das „Ssch“ wie beim Wort „Schiff“ aus.
„Prima“, freute sich Klaas, „dann sagen Sie Ihren Landsleuten, dass wir sie zuerst zum Waschen bringen. Water. Cleaning“, fügte der Beamte hinzu.
„Oh yes, shower“, sagte Aaron, der verstanden hatte.
Sabélo, dessen Größe mit über zwei Metern beachtlich war, schob seinen muskelbepackten Körper vor Uwe Klaas und zeigte ein strahlendes Lächeln, als er dem Beamten überglücklich die Hand schüttelte. Dem Deutschen verschloss es erneut die Luftröhre, denn über Sabélo flimmerte die Luft; der Gestank war unglaublich.
Aaron bemerkte das Würgen des Zöllners und zog Sabélo beiseite.
„Ist gut, Sabélo, wir müssen uns erst mal säubern“, sagte er und nickte. Uwe Klaas war es zwar peinlich, aber er konnte nicht anders, als zwei Schritte zurückzutreten und den Kopf abzuwenden, um Luft zu holen.
Es dauerte fast einen halben Tag, bis die ganze Gruppe durch die Duschen geschleust und neu eingekleidet war. Es standen zehn Duschkabinen zur Verfügung und so spuckte die Sanitärstation immer zehn oder zwölf Menschen wieder aus, denn es gab auch Mütter, die sich nicht von ihren Kindern trennen wollten und gemeinsam duschten. Gleich mit der ersten Gruppe traten Aaron und Sabélo, der seinem Freund ständig wie ein übergroßer Schatten folgte, mit frischen Jeans und karierten Hemden eingekleidet in den Flur der Zollstation. Schnell hatte man Aaron in die Arbeit eingespannt, weil er gerade so viel Deutsch sprach, um dolmetschen zu können. Dieser Umstand erwies sich als besonders hilfreich, den deutschen Behörden verständlich zu machen, dass sie alle politische Flüchtlinge waren und Asyl beantragten.
Der nächste Tag begann mit einem Schock. Aaron sollte nach Dessau kommen, Sabélo nach Hannover. Als Sabélo verstanden hatte, dass man ihn von Aaron trennen wollte, zogen sich seine Augenbrauen zusammen. Sein immer sonniges Gemüt schien sich plötzlich in dunkle Sturmwolken zu hüllen. Er schüttelte den Kopf und mit seiner imposanten Bassstimme sagte er:
„Sabélo nix Hannover. Sabélo Dessau, Sabélo with Aaron!“
„Verstehen Sie doch, wir haben unsere Vorschriften. Die Maßnahme gilt der Prävention von kriminellen Delikten durch Gruppen- und Bandenbildung ...“, versuchte der sachbearbeitende Beamte zu erklären. Doch Sabélo verstand das Beamtendeutsch ohnehin nicht und obendrein war ihm völlig egal, was der Beamte ihm zu erklären versuchte.
„Sabélo with Aaron!“, donnerte Sabélos Bass durch den Raum. Schlagartig wurde es still. Viele Köpfe drehten sich zu ihnen.
Einer der Beamten an einem Schreibtisch stand auf und seine Hand ging zur Dienstwaffe. Aaron beruhigte seinen Freund. Nachdem er dem Beamten mit Händen und Füßen erklärt hatte, dass Sabélo ein einfaches Gemüt habe und er, Aaron, sich seit Kindertagen wie ein großer Bruder um den Hünen kümmere, sah der Beamte ein, dass es vielleicht besser sei, ein Kraftpaket wie Sabélo unter der Obhut von Aaron zu belassen. Der junge Mann machte einen guten Eindruck.
„Also gut, wir schicken Sie beide nach Dessau“, sagte der Zöllner. Aaron legte seinem Freund die Hand beruhigend auf den muskelbepackten Oberarm und nickte ihm lächelnd zu. Sabélo verstand, strahlte und schüttelte dem Beamten begeistert die Hand.
Man brachte sie in einem kleinen Reisebus über die Autobahn nach Dessau. Sabélo starrte die ganze Zeit verzückt aus dem Fenster, weil er in seinem ganzen Leben noch nie soviel Grün an einem Stück gesehen hatte. Als sie an einer Raststätte anhielten, weil einige der Leute auf die Toilette mussten, stand er außer sich vor Staunen an den Waschbecken, bei denen man nur die Hände unter den Wasserhahn halten musste, damit sofort Wasser floss. Gierig trank Sabélo mindestens anderthalb Liter aus dem Hahn, während sich die überwiegend europäischen Besucher kopfschüttelnd an ihm vorbeidrückten. Dann ging die Fahrt weiter. Am Nachmittag erreichten sie ihr Ziel – Vackerstedt, ein kleines Dörfchen in der Region Dessau. Schon während der Fahrt durch die auffallend leeren Straßen wurde der Bus von feindseligen Augen verfolgt. Jugendliche mit glattgeschorenen Köpfen und verkniffenen Mündern fixierten das Fahrzeug. Aaron sah ihre Gesten, ihre Hände, die das Durchschneiden des Halses andeuteten. Es war still geworden im Bus und auch Sabélo hatte die veränderte Stimmung erkannt. Seine Augen schauten grimmig, als er leise zu Aaron sagte:
„Lass die nur kommen. Ich bin bei dir.“
Sie bewohnten ein lang gestrecktes, doppelstöckiges Fertiggebäude, das speziell für Flüchtlinge außerhalb der eigentlichen Ortsbebauung errichtet worden war. Hier kamen bis zu sechzig Menschen unter. Aaron und Sabélo teilten sich ihr Dreibettzimmer mit Babû, einem immer lustigen und gut gelaunten Landsmann. In den ersten Tagen lebten sie sich ein, schliefen viel, genossen das Bad, das für alle reichen musste und auf dem Flur lag, spielten Karten und gewöhnten sich an das fremde Essen. Sie fühlten sich wie im Paradies. Es gab fließendes Wasser – das allein war schon alle Mühen wert. Man zeigte ihnen, wie sie an die Einkaufsgutscheine kamen, wo der nächste Supermarkt lag und wie man dort einkaufen konnte. Doch bei all den paradiesisch anmutenden Bedingungen gab es einen ganz entscheidenden Aspekt, der ihre Freude trübte – die Einheimischen. Die meisten älteren Dorfbewohner begegneten den „Negern“ mit Skepsis oder Ignoranz. Das wäre ja noch akzeptabel gewesen – und Aaron war davon überzeugt, daran hätten sie etwas ändern können. Doch die Vielzahl der Jungen und Jugendlichen hatte entweder Angst oder zeigte offen ihre Ablehnung und auch Aggression.
Aaron und Sabélo waren mit dem Bus ins Stadtzentrum von Vackerstedt gefahren und hatten Nahrungsmittel eingekauft. In jeder Hand eine vollgepackte Plastiktüte gingen sie schwatzend zurück zur Bushaltestelle. Sie waren allein, setzten sich auf die Bank und stellten ihre Einkäufe neben sich. Plötzlich erschienen sechs Männer in dunkler Kleidung, die Köpfe glattgeschoren. Sie bauten sich auf dem Bürgersteig vor der Bushaltestelle auf und musterten unverhohlen feindselig die beiden Schwarzen.
„Guten Tag“, sagte Aaron. Als keine Antwort kam, sagte er in seiner Muttersprache zu Sabélo:
„Sieht so aus, als könnte es Ärger geben.“
Sabélo fixierte den größten der Männer und erhob sich langsam. Er machte einen Schritt nach vorne, damit er mit dem Schädel nicht gegen die Haltestellenüberdachung stieß. Die Augen der Glatzköpfe folgten ihm. Sie mussten ihre Köpfe in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht schauen zu können. Sie wechselten ein paar Blicke – und zogen sich dann wortlos und betont lässig zurück. In einigen Metern Entfernung drehten sich die Männer noch einmal um. Sabélo streckte sich, gähnte und legte dann demonstrativ lässig die Handgelenke auf den Rand der Haltestellenüberdachung. Er wandte den Kopf und zeigte mit einem wölfischen Grinsen riesige, schneeweiße Zähne, die in seinem dunkelhäutigen Gesicht leuchteten wie Autoscheinwerfer in der Nacht. Die Glatzen wandten sich ab und verschwanden.
„Siehst du? Kein Problem!“, sagte Sabélo belustigt.
„Die haben wir nicht zum letzten Mal gesehen, mein Freund, glaube mir“, erwiderte Aaron nachdenklich.
„Lass sie doch kommen. Mit denen werde ich schon fertig!“, prahlte der Hüne. Und obwohl Aaron wusste, dass sein Freund es leicht mit zehn Männern aufnehmen konnte, hatte er in den Augen dieser Weißen etwas gesehen, das seine Seele gefrieren ließ. In ihren Herzen wohnte ein Dämon, der unberechenbar war, jederzeit bereit, Unheil anzurichten.
Eine Woche später kamen Aaron und Sabélo erneut nach den erledigten Einkäufen an die Haltestelle. Diesmal wurden sie offenbar erwartet. Als sie eintrafen, stand einer der kahlen Männer dort und musterte sie abschätzig.
„Schönen guten Tag“, sagte er spöttisch grinsend und entfernte sich.
„Guten Abend“, sagte Aaron und sah dem Fremden nachdenklich nach. Nur Minuten später kamen aus allen Himmelsrichtungen Glatzköpfe auf die Haltestelle zu. Ein älteres Ehepaar, das sich ebenfalls eingefunden hatte, machte sich hastig aus dem Staub. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt und es begann, leicht zu regnen. Aaron erkannte, dass sie keine Chance zur Flucht hatten. Schon war die Haltestelle umringt. Doch diesmal waren es nicht sechs, sondern mindestens dreißig kahlrasierte Dunkelmänner – und sie hatten Eisenstangen und Baseballschläger dabei.
„Scheiße!“, sagte Aaron und seine Stimme zitterte. Sabélo stand auf und trat auf die Straße. Er hob beide Hände und machte eine lockende Handbewegung. Ansatzlos stürmten die Männer los und die ersten Hiebe prasselten auf Sabélo nieder. Schnell hatte er zweien der Angreifer die Arme gebrochen und die Holzschläger in seinen Besitz gebracht. Eine wilde Schlacht entbrannte. Seine Größe und die Länge seiner Arme waren Sabélos mächtigster Vorteil. Aber er war allein. Aaron hatte den Lauf eines Revolvers am Hals und rührte sich nicht. Ein Angreifer nach dem anderen ging endgültig zu Boden. Sabélo bewegte sich mit animalischer Eleganz über das regennasse, schwarz glänzende Straßenpflaster, in dem sich die Lichter der Straßenbeleuchtung spiegelten. Er blutete aus mehreren Platzwunden am Kopf und aus Schnittwunden am ganzen Oberkörper. Doch das schien ihn keineswegs zu behindern. Als fünfzehn Glatzköpfe um ihn herum entweder ohnmächtig am Boden lagen oder sich humpelnd und kriechend aus der Gefahrenzone entfernten, fuhr ein Polizeiwagen heran. Die Scheinwerfer hüllten die Szene in gelbes Licht. Sabélo triumphierte. Nun würden die Ordnungshüter die Angelegenheit übernehmen. Doch nichts geschah. Der Polizeiwagen setzte sich stattdessen in Bewegung und bog in eine Seitenstraße ab. Sabélo sah ihm ungläubig nach. In diesem Moment bellte ein Schuss durch die Abendluft und Sabélo spürte einen explodierenden Schmerz in der linken Schulter. Dann verlor er das Bewusstsein.
Als der Hüne wieder zu sich kam, lag er auf einem Krankenbett, dessen Fußende man abgenommen hatte und das mit einem zweiten Bett verlängert worden war. Sabélo blinzelte und nahm neben sich eine Bewegung wahr.
„Sabélo? Sabélo! Du bist wach! Gott sei Dank!“, freute sich Aaron und stand auf, damit er seinem Freund in die Augen sehen konnte.
„Was ist passiert?“, wollte der Hüne wissen und seine Stimme klang belegt.
Aaron berichtete: „Du hast wie ein Löwe gekämpft und dreiundzwanzig der Angreifer außer Gefecht gesetzt. Als man gewahr wurde, dass du den Kampf gewinnen würdest, haben sie auf dich geschossen. Deine Schulter wurde verletzt, aber nicht die Lunge. Du wirst wieder ganz gesund.“
Sabélo grinste: „Denen haben wir es gezeigt, was?“, sagte er mit Stolz in der Stimme. Doch dann runzelte er die Stirn, als die Erinnerung wiederkam.
„Hast du den Polizeiwagen gesehen?“, fragte er.
Aaron nickte nur mit dem Kopf und schaute auf seine Füße.
„Wieso sind die weggefahren? Wieso haben die uns nicht geholfen?“ Sabélo verstand das nicht.
Aaron hätte sich gerne um eine Antwort gedrückt, doch er wollte seinem Freund reinen Wein einschenken. Also sagte er:
„Einige der von dir besiegten Angreifer haben Strafanzeige gegen dich bei der Polizei gestellt – wegen schwerer Körperverletzung. Siebzehn von ihnen liegen auch noch hier im Krankenhaus. Und die Polizei hat die Anzeigen angenommen. Du wirst vor Gericht kommen.“ Aarons Stimme war immer leiser geworden. Er hatte Deutschland immer als Paradies angesehen, aber seine Meinung hatte sich geändert. Was hier geschah, war nicht nur unrecht. Es war hinterlistig, feige und ungerecht. Während er berichtete, waren Sabélos Augen immer größer geworden. Er richtete sich auf und sein ungläubiges „WAS?“ donnerte durch das Krankenzimmer. Mit sanftem Druck bewog Aaron seinen Freund, sich wieder ins Kissen sinken zu lassen.
„Ich kann nicht glauben, dass dieses Land, das auf der ganzen Welt als Beispiel für einen Sozial- und Rechtsstaat gilt, so innerlich verfault ist“, sagte Aaron und seine Augen wurden feucht. Er verachtete Menschen, die so unfair und niederträchtig waren. Mit solchen Leuten wollte er nicht in einem Raum sein. Er hasste nicht, aber die Abneigung verursachte ihm Übelkeit. Er schüttelte den Kopf, um sich von dem Gespinst der Abscheu zu befreien, das seinen Geist umfing. Es wollte ihm aber nicht gelingen. Kurz danach schlief Sabélo wieder ein.
Aaron machte sich auf den Weg zum Heim. Wieder musste er mit dem Bus fahren. Am Ziel angekommen stieg er aus und machte sich auf den Weg. Er war noch nicht weit gekommen, als ihm plötzlich fünf schwarz gekleidete Gestalten den Weg versperrten. Aaron erkannte einige der Männer wieder. Er drehte sich um, aber seine Flucht war bereits unmöglich. Er war schon umstellt.
„Jetzt biste alleene, wa? Keen starker Kumpel, der Dir helfen kann!“, höhnte der Anführer und schnippte mit den Fingern. Wieder näherten sich mit Baseballschlägern und anderen Schlagwerkzeugen bewaffnete Neonazis dem Dunkelhäutigen. Aaron wusste, dass es nun um ihn geschehen war. Er hatte dieser Übermacht nichts entgegenzusetzen. Mit der Linken griff er an seinen Hals und spürte das Maskenamulett, das seine Mutter ihm geschenkt hatte. Es begann, warm zu werden, und verbreitete auf seiner Haut ein Kribbeln wie von elektrischem Strom, das über seinen ganzen Körper kroch. Aaron vermutete, das sei die Todesangst. Er schloss die Augen und hörte, wie hinter ihm jemand nah an ihn herantrat, scharf die Luft einsog und zuschlug. Aaron erwartete den explodierenden Schmerz, und sein letzter Gedanke galt seiner Mutter und seinen Geschwistern, die er wohl nie wiedersehen würde. Dann hört er das wuchtige Rauschen, als der Baseballschläger mit voller Wucht die Luft zerteilte. Doch nichts geschah. Aaron spürte – nichts. Ein überraschter Aufschrei ließ ihn die Augen öffnen. Sofort gefror ihm das Blut in den Adern. Der Skinhead hatte mit voller Wucht von hinten zugeschlagen. Doch anstatt ihn zu verletzen, hob die Wucht des Schlages den Mann von den Füßen und er stolperte – stolperte durch Aaron hindurch und fiel wie ein nasser Sack mit dem Gesicht nach vorn auf den Gehsteig.
„Was zum Teufel ...“, entfuhr es dem Anführer. Er zog einen Schlagring aus der Tasche seiner schwarzen Lederjacke, streifte ihn über die rechte Hand und schlug mit voller Kraft nach Aarons Kopf. Reflexartig zuckte Aaron zurück, doch der Schlag traf ihn mitten ins Gesicht – und fuhr hindurch. Aaron öffnete die Augen. Der Arm seines Angreifers war unter seiner Nase in seinen Schädel eingedrungen und ragte aus seinem Hinterkopf. Schockiert schlug Aaron nach dem Glatzkopf – und seine flache Hand versetzte dem Aggressor eine schallende Ohrfeige. Der Kahle riss vor Überraschung die Augen auf, dann schlug er erneut zu. Diesmal versuchte er einen Leberhaken. Doch auch dieser Schlag ging ins Leere und hob den Angreifer von den Füßen. Er stolperte auf die Knie, riss den Kopf hoch und starrte Aaron mit vor Hass zur Maske verzerrten Fratze an. Aaron durchflutete ein Hochgefühl. Während weitere Neonazis versuchten, ihn zu verletzen, griff Aaron nach den beiden Ohren des Anführers, die er mit beiden Fäusten umschloss und zudrückte. Er zog den Mann auf die Beine, bis sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Erst dann ließ Aaron los. Der Glatzkopf rieb sich mit verkniffener Miene die Ohrmuscheln. In diesem Moment traf ihn der Schläger eines seiner Kampfgenossen, der immer noch versuchte, Aaron niederzustrecken, mit voller Wucht auf die Schulter.
„Ahh! Biste bescheuert? Siehste nicht, dass der Typ ... was weiß ich, was der ist ... dass du ihn nicht treffen kannst?“, brüllte der Verletzte und seine Augen sprühten vor Wut. Dann wandte er sich wieder an Aaron:
„Wir kriegen dich! Und wenn nicht dich, dann deine Freunde. Ihr habt hier verschissen, ihr dreckigen ...“
Weiter kam er nicht, weil Aaron ihm eine zweite schallende Ohrfeige verabreichte. Mit aufgeblasenen Backen und vor Wut hochrotem Kopf starrte der Anführer sein Gegenüber an. Der Glatzkopf, der Aaron zu schlagen versucht hatte, ließ den Baseballschläger fallen, drehte sich um und rannte wie von Furien gehetzt weg. Einige seiner Kumpane folgten ihm. Aaron sagte gefährlich leise:
„Ich euch jetzt verhexen. Oder haut ab!“
„Dreck, verdammter, lass mich bloß mit deinem Hokuspokus in Ruhe!“, rief der Anführer und spuckte angeekelt aus. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Nase. Dann winkte er seinen Genossen zu und sie verschwanden.
Aaron blieb wie angewurzelt stehen. Noch immer hielt seine Linke das Amulett fest umschlossen. Das Kribbeln verschwand. Sein Hirn begann langsam, das Unglaubliche zu verarbeiten. Er hatte gerade einen Zauber erlebt, ein Wunder, das ihm das Leben gerettet hatte. Bisher hatte er zu den religiösen Traditionen seines Volkes immer ein gespaltenes Verhältnis gehabt. Ihm war es immer so vorgekommen, als missbrauchten die Schamanen den Glauben an die Götter und ihren Zauber zum eigenen Vorteil. Doch was er gerade erlebt hatte, konnte er sich nicht erklären. Er schloss die Augen und die wilde Freude, noch am Leben zu sein, paarte sich mit einem überwältigenden Gefühl der Dankbarkeit.
Etwa neuntausend Kilometer entfernt blickte Fola in den Nachthimmel. Ihre Linke umfasste ein Amulett.
Es glich dem von Aaron wie ein Ei dem anderen. Fola schloss die Augen und eine Träne rann über ihr glückliches Lächeln.
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